Eine Tour de Suisse als Achterbahn-Erfahrung

Die 85. Tour de Suisse der Männer endet heute mit einem Einzelzeitfahren in Vaduz. Die Frauen gehen in ihre zweite von vier Etappen. Und die Tour-Organisation blickt im Wechsel von Tiefs und Hochs mit zuversichtlicher Gestaltungsfreude in die Zukunft.

«Wir leben seit zehn Tagen auf einer Achterbahn – und wir bleiben munter.» Den Satz zur Gefühlslage vor dem Start zum heutigen Zeitfahren der Frauen und Männer spricht Tourdirektor Olivier Senn mit einem Lächeln aus. Hinter der Metapher stecken zehn Tage knochenarter Arbeit für Fahrer, Teams und die gesamte Tourorganisation, begleitet von Gefühlen jeder Prägung.

Auf der Seite «Freude und Spass» der emotionalen Skala halten sich der Sport und die Stimmung an den Etappenorten die Waage. Am Ziel der siebten Etappe triumphiert gestern in Malbun der Franzose Thibaut Pinot, der sich den Schlussanstieg am besten eingeteilt hatte und vor Óscar Rodriguez und dem Kasachen Alexey Lutsenko in Malbun ankam. Dahinter entbrannte der Kampf um die Gesamtwertung. Mit einer trockenen Attacke sicherte sich Sergio Higuita – mit vollem Namen Sergio Andrés Higuita García – das Goldene Trikot. Geraint Thomas und der bisherige Leader Jakob Fuglsang hatten das Nachsehen. Fuglsang hatte am Tag zuvor das Leadertrikot vom Russen Aleksandr Vlasov geerbt, der die Tour am Morgen nach seinem Etappensieg in der Tessiner Hitze verlassen hatte. Davor hatte Stephen Williams, der wie Geraint Thomas aus Wales stammt, die ersten vier Tourtage in Gelb verbracht. Kurzum: Die seit vielen Jahren anspruchsvollste Tour de Suisse hat die Fahrer zu einem hochkarätigen Radsportfestival inspiriert.

Ein Velofest von Ort zu Ort

Das Publikum an den Etappenorten und entlang der Strecke bleibt den Fahrern an den Etappenorten und entlang der Strecke nichts schuldig. «Wir erleben seit dem Start in Küsnacht ein durchgängiges Velofest», freut sich Olivier Senn. Wie populär die Tour de Suisse ist, zeigen auch die Zahlen aus den digitalen Medien: Rund 400’000 Personen haben auf der Website in den letzten zehn Tagen 2,5 Millionen Seitenaufrufe generiert; sechzig Prozent der Besuche stammen aus der Schweiz. Das Online-Publikum schätzt die mehrsprachige Live-Berichterstattung und löst rege Interaktion auf den sozialen Kanälen aus. Im Fernsehen liegt der Marktanteil auf SRF 2 während der Live-Übertragung bei rund 30 Prozent. Damit haben rund 107’000 Zuschauerinnen und Zuschauern die Startetappe miterlebt.

Der Covid-Schock zur Halbzeit

Im Spektrum «Krise und Stress» steht der Ausbruch einer Covid-Welle im Fahrerfeld obenan. Am Freitagmorgen mussten neben Leader Alexandr Vlasov drei vollständige Teams nach positiven Covid-Tests die Tour verlassen. Eine Mannschaft blieb dem Start bereits einen Tag davor fern.. Olivier Senn: «Nach einer sorgfältigen Klärung aller Fakten und im Dialog mit allen Beteiligten haben wir am Freitagmorgen beschlossen, das Rennen mit den verbleibenden 18 Teams fortzusetzen. Wir waren darauf eingestellt, am Samstag mit der UCI sowie den Team- und Fahrervertretern eine weitere Krisensitzung durchzuführen und im schlimmsten Fall die Tour abzubrechen. Der weitere Verlauf hat gezeigt, dass dies nicht nötig war. Unser Schutzkonzept hat gegriffen, und dank der Disziplin aller Beteiligten konnten wir die Situation nach dem Ausscheiden der Infizierten unter Kontrolle halten.»

Mit dem Covid-Ausbruch in der aktuellen Tour hat die junge Tour-Trägerschaft um die beiden Radpsortunternehmer Olivier Senn und Joko Vogel eine weitere Belastungsprobe bestanden. Das Unternehmen Cycling Unlimited AG, an dem auch der Verband Swiss Cycling und die Wertevermarkterin Infront beteiligt sind, hat das Zepter nach Abschluss der 83. Tour de Suisse im Sommer 2019 übernommen. Statt der Premiere im neuen Gefüge folgte im Jahr 2020 die Absage. Die Ausgabe 2021 fand unter massiven Pandemie-Einschränkungen mit horrenden Begleitkosten statt. «Ohne das Hilfspaket des Bundes hätten wir diese Krise nicht überlebt», hält Olivier Senn unumwunden fest. «Aber diese finanzielle Unterstützung allein ist nicht der Grund, dass wir heute existieren und eine begeisternde Tour de Suisse erleben dürfen. Vielmehr hat sich gezeigt, dass unser Gesamtkonstrukt robuster ist als wir uns selbst hätten erträumen lassen. Die Grundidee von Cycling Unlimited ist, für Breiten- und Spitzensport auf dem Rennvelo gemeinsam mit Swiss Cycling eine belastbare Plattform zu schaffen. Seit drei Jahren erleben wir, dass die Idee auch in widrigen Zeiten funktioniert. Das stimmt uns munter für die Zukunft.»

Kürzere Lieferwege, weniger Emissionen

Die Zukunft der Tour de Suisse ist für die nächsten fünf Jahre auch auf der Landeskarte bereits deutlich skizziert. «Bis 2027 sind mehrere wichtige Verträge mit Etappenorten unterzeichnet. Am Konzept mit den Hubs am Start- und Zielwochenende halten wir fest. Wir freuen uns auch, bald wieder in die Suisse romande zu kommen.» Das wird bereits nächstes Jahr in Villars-sur-Ollon (VD) der Fall sein. Neben der sportlichen Weiterentwicklung achtet die Tourdirektion auch auf die Rahmenbedingungen. So wurde dieses Jahr das Catering an jedem Etappenort mit lokalen Partnern gestaltet. «Dieser dezentrale Ansatz statt einer zentralen Lösung bedeutet für unsere gesamte Organisation eine spürbare Zusatzbelastung. Aber die kurzen Lieferwege und lokale Verankerung sind, wie der Trend zu emissionsfreien Fahrzeugen, Teil unserer Anstrengungen auf dem Weg zu mehr Nachhaltigkeit bei einem Grossanlass. Auf dieser Lern- und Gestaltungsreise nehmen wir gerne auch zusätzliche Mühen in Kauf», so Senn.

Finale der Herren, Tour der Frauen

Wie die Achterbahnfahrt der 85. Tour de Suisse endet, wird sich in zwei Phasen zeigen. Zunächst schliessen die Herren heute in Vaduz mit einem Einzelzeitfahren ihre Rundfahrt ab. Da lauert der schweizerisch-liechtensteinische Doppelbürger Stefan Küng als Fachmann der Prüfung gegen die Uhr auf Gesamtrang sieben mit 2 Minuten und 19 Sekunden Rückstand auf Leader Sergio Higuita. Parallel dazu übernehmen die Frauen das Zepter und werden ihre zweite Tour de Suisse am Dienstagabend auf der Lenzerheide abschliessen. Ein Cocktail aus Spannung, Stimmung und Zuversicht. «Die Krisen und den Stress lassen wir zum Abschluss gerne beiseite», meint Olivier Senn mit einem Augenzwinkern.

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