Der 20-jährige Neo-Profi Marc Hirschi (Team Sunweb) befindet sich momentan auf der Überholspur – nun steht der Berner vor seiner ersten Tour de Suisse-Teilnahme.
Der 21. Juni 2009 war für den Radsport ein geschichtsträchti- ger Tag. Damals gewann Fabian Cancellara in Bern überlegen das abschliessende Zeitfahren, zog Leader Tadej Valjavec das Leader- trikot aus und liess sich von den Fans als bis heute letzter Schwei- zer Gesamtsieger der Tour de Suisse feiern.
Unter den Zuschauern befand sich damals auch Marc Hirschi, zehn Jahre alt, wie Cancellara in Ittigen wohnhaft und ein grosser Fan des Schweizer Radstars. Er spielte früher Fussball und kam durch seinen Vater zum Velofah- ren. Zuerst bestritt er Mountain- bike-Rennen, er träumte aber von Wettkämpfen auf der Strasse. Mit 14 Jahren bekam er schliesslich sein erstes Rennvelo und konnte sich in die Fussstapfen seines Vorbildes begeben. «Als ich mit dem Radsport anfing und am Streckenrand stand, war Fabian in seinen grossen Jahren. Er hat mich enorm inspiriert, ich ver- suchte, ihm nachzueifern und bei den Profis zu landen», sagt Hirschi heute.
3646 Tage danach…
Dieses Ziel hat der 20-Jährige erreicht. Am 15. Juni 2019, 3646 Tage nach Cancellaras Triumph, steigt der Berner in Langnau in seine erste Tour de Suisse, nur gut 30 Kilometer von seinem Wohnort entfernt. Die Vorfreude sei riesig, sagt Marc Hirschi, «und zwar seit Februar, als ich erfuhr, dass ich in diesem Jahr die Tour bestrei ten darf».
Die Schweizer Landesrundfahrt ist für den jungen Profi aus dem Sunweb-Team einer der grossen Saisonhöhepunkte, in den letzten Wochen, seit dem Ende der Frühjahrsklassiker, hat er sich gezielt auf sie vorbereitet, um sein Ziel zu erreichen: «Ich will möglichst in Topform sein und mich von meiner besten Seite zeigen. Die Tour de Suisse ist das Rennen, das ich als Kind live am Streckenrand verfolgte. Jetzt bin ich selber dabei, da geht ein Traum in Erfüllung.»
Es werden in diesen Tagen im Juni weitere Meilensteine sein, die der sympathische und ruhige Berner erreicht, nachdem er schon in den Anfängen seines ersten Profijahres glänzen konnte. Im Baskenland und in Belgien schaffte er es bereits dreimal in die Top Ten eines Rennens. Sein Team bot ihn für die Monumente Mailand–Sanremo und Lüttich–Bastogne–Lüttich auf, was für einen Neo-Profi ungewöhnlich ist. «Ich war auch überrascht, dass ich diese zwei Rennen fahren durfte, es ist aber umso schöner, da es das Vertrauen zeigt, welches das Team mir schenkt», sagt Hirschi. «Ja, ich bin mit meinem Start zufrieden.»
Jedes Rennen ein Highlight
Die Monate Februar bis April waren für den 20-Jährigen intensiv, er bestritt auch viele Eintagesrennen und musste sich dabei an die Profi-Luft gewöhnen. Der grösste Unterschied sei die Länge der Rennen, da könne er sich verbessern, vor allem bei den Monumenten, wenn man 260 Kilometer fährt und mehr als sieben Stunden im Sattel ist. Mental seien die vergangenen Monate aber einfach zu verarbeiten gewesen, «denn jedes Rennen ist irgendwie ein neues Highlight».
Natürlich ist der Beruf eines Radprofis hart, oftmals müssen sich die Fahrer selber quälen. Doch Marc Hirschi kann seinen neuen Lebensabschnitt dennoch geniessen. Statt in der Anonymität der U23 fährt der Berner plötzlich auf der ganz grossen Bühne mit. Er ist Teamkollege eines Stars wie Tom Dumoulin, dem Sieger des Giro d’Italia 2017. «Am Anfang war es sehr speziell und surreal, da es Schlag auf Schlag gekommen ist», erklärt der 20-Jährige sein neues Umfeld. «Aber man gewöhnt sich daran – und im Rennen sind auch die Profis nur Menschen. Es ist zwar alles schneller, aber es sind nach wie vor Velorennen.»
Im deutschen Team wurde er schnell und gut aufgenommen, die älteren Profis helfen den jüngeren, versuchen, sie ins Team einzubinden. Betreffend Akzeptanz war es vielleicht hilfreich, dass Marc Hirschi im vergangenen September in Innsbruck U23-Weltmeister wurde und sein enormes Potenzial aufgezeigt hatte. Er sagt: «Zu Beginn gibt es da sicher einen Bonus, aber schlussendlich zählen die ersten paar Rennen, dann wird man an ihnen gemessen.»
«Ich werde etwas probieren»
Momentan bekleidet Hirschi bei Sunweb noch eine Helferrolle und muss sich daran gewöhnen, dass die Rennen im Vergleich zu der U23 kontrollierter verlaufen und es nun viel mehr ein Teamsport ist, bei dem es darum geht, den Leader möglichst frisch ins Finale zu bringen, während in der Kategorie U23 eher mit offener Taktik gefahren wird. Marc Hirschi gilt als eines der grössten Schweizer Talente, verfügt über einen sehr guten Instinkt und hat die Fähigkeit, das Rennen lesen zu können. Diese Attribute sorgen dafür, dass er auch als junger Neo-Profi unter den gestandenen Stars jederzeit einen Coup landen könnte. Wieso nicht an der Tour de Suisse? In der zweiten Etappe, dem Rundkurs mit Start und Ziel in Langnau?
«Wenn es die Teamtaktik zulässt und ich die Chance bekomme, werde ich sicher etwas probieren», sagt er schmunzelnd. «Aber das Niveau ist an der Tour richtig hoch, sie findet kurz vor der Tour de France statt, viele Fahrer werden in Topform sein. Es wird schwierig, aber wenn es klappen würde, wäre es natürlich extrem schön.»
Sein Vorbild Fabian Cancellara feierte 2003 in seinem ersten Tour de Suisse-Einsatz auf Anhieb seinen ersten von schlussendlich elf Etappensiegen, als er den Prolog in Egerkingen gewann. Ein ähnliches Husarenstück nun von Marc Hirschi zu erwarten, wäre vermessen. Aber das Ziel ist klar: Der Berner will in den kommenden Jahren im internationalen Rampenlicht glänzen. Momentan sieht er seine Stärken in den Klassiker-Etappen, jenen, die zwar hart, aber nicht extrem schwer sind und bei denen oftmals eine kleinere Gruppe gemeinsam das Ziel erreicht und im Finale der Instinkt und die Taktik wichtig sind. Wer weiss, vielleicht zeigt er das ja auch in diesen Tagen im Juni 2019.
Text: Andy Maschek, Fotos: ©Team Sunweb/Cor Vos, Jerome Prevost